Zur Urteilsverkündung im Prozess gegen den Attentäter von Halle
Vor zwei Tagen wurde das Urteil im Prozess gegen den Attentäter von Halle verkündet. Nachdem Aftax I. und İsmet Tekin zu Beginn des Prozesses nicht als Nebenkläger zugelassen waren, hat das Urteil ihnen auch heute unrecht getan. Das Gericht hat ihnen verwehrt, dass der Angriff auf sie als Mordversuch gewertet wird. Ein Beitrag zum Call for Papers: Wie weiter „nach Halle“?
Am Tag des Anschlags, dem 09. Oktober 2019, versuchten Polizeibeamt:innen auf der Ludwig-Wucherer-Straße den Täter zu stoppen. Dieser eröffnete das Feuer. Zuvor hatte er bereits Schüsse im Kiez-Döner abgefeuert und versucht, diesen mit einer Nagelbombe anzugreifen. Kevin Schwarze ist dort ermordet worden. Die Schüsse in Richtung der fünf Polizeibeamt:innen wurden im Gerichtsurteil als Mordversuche gewertet. Das Gericht begründete dies unter anderem mit dem Hass des Täters auf den Staat, der durch die Beamt:innen repräsentiert worden sei. Der Täter sagte im Prozess aus, er hätte sie nicht töten wollen. Seiner Aussage schenkte der Senat, wie an vielen anderen Stellen im Prozess, keinen Glauben.
Zur selben Zeit an diesem Tag befand sich auch İsmet Tekin auf der Ludwig-Wucherer-Straße. Er wollte zum Kiez-Döner, um seinem Bruder zu helfen. Damit befand er sich näher am Täter als die Polizeibeamt:innen. Auch Tekin hätte von Schüssen getroffen werden können. Der Angriff auf ihn wird im Urteil jedoch nicht als Mordversuch gewertet. Das Gericht begründet das damit, dass die Situation für den Täter unübersichtlich gewesen sei. Im Urteil führt die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens einerseits nicht genau aus, ob die Schüsse wirklich allen Polizeibeamt:innen als Mordversuch galten. Hier reicht die Ablehnung des Staates durch den Täter als Begründung aus. Andererseits scheint für das Gericht hingegen festzustehen, dass der Täter Tekin nicht explizit ermorden wollte – das extrem rechte und vor allem rassistische Weltbild des Täters scheint hier als Grund nicht auszureichen. Das Gericht urteilt also mit zweierlei Maß.
Später am Tag des 09. Oktobers 2019 fuhr der Täter mit seinem Fluchtwagen Aftax I. auf der Magdeburger Straße an. Im Prozess sagte der Täter aus, dass er ausgewichen wäre, hätte es sich bei Aftax um eine Weiße Person gehandelt. Aftax wich er nicht aus. Das Gericht dagegen nimmt, so die Nebenklageanwältin Ilil Friedman, die Aftax im Prozess vertrat, diesen Vorfall als Unfall und das Überleben von Aftax als glücklichen Zufall, wahr. Dementsprechend fällt auch das Urteil aus: fahrlässige Körperverletzung. Der Täter beteuerte, er habe eine Kollision nicht gewollt, da ihm das die Flucht erschwert hätte. Das Gericht entschied sich hier, dem Täter zu glauben, obwohl es im Prozess eine ausführliche Beweisaufnahme gegeben hatte. Die Richterin adressiert Aftax in der Urteilsverkündung persönlich. Sie gibt sich empathisch und nah, lässt aber die rassistische Tatmotivation dabei außen vor. Die Aussagen von Aftax selbst werden im Urteil nicht besonders beachtet. Ilil Friedman glaubt, dass das Gericht es nicht für notwendig hielt, den Vorfall tatsächlich aufzuklären. Für sie ist klar, der Täter hat aus rassistischen Motiven gehandelt und hielt mit seinem Auto willentlich auf Aftax zu. Dieser Vorfall muss also als rassistisch motivierter Mordversuch gewertet werden. Aftax selbst hat das Urteil schwer getroffen, er möchte aktuell keine Stellungnahme dazu abgeben.
Die Sozialistische Jugend – Die Falken sind ein linker, selbstorganisierter Kinder- und Jugendverband. Die Falken streben in ihrer Arbeit den Aufbau einer gerechten, solidarischen Gesellschaft an. Bei den Falken können Kinder und Jugendliche sich in eigener Verantwortung und selbstorganisiert bilden, füreinander einstehen und versuchen, die Gesellschaft zu verändern – zum Beispiel in Kinder- und Jugendgruppen, Ferienfreizeiten, Seminaren und internationalen Austauschen.
Das Urteil verschweigt die Täter-Ideologie
In der Urteilsverkündung hat die Richterin bewusst auf einen besonderen Bezug zur Ideologie des Täters verzichtet. Die Nebenklageanwältin Kristin Pietrzyk nannte das „mutlos, harmlos und extrem entpolitisierend.“ Auch im Laufe des Prozesses wurde immer wieder deutlich, dass sowohl die Richterin, als auch einzelne Nebenkläger:innen sowie deren Vertreter:innen, aber auch Politiker:innen und Presse von der Annahme ausgehen, es handele sich beim Täter um einen tragischen Fall, eine Person, deren Hass und Menschenverachtung durch genügend Empathie begegnet werden könne. Durch eine solche individualisierende Sichtweise und das Verschweigen der Täter-Ideologien – nämlich Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus – wird auch eine weitere Analyse der Einbettung dieser Ideologien in gesellschaftliche Verhältnisse verhindert.
Der Täter ist nicht das Opfer ungünstiger Familienhintergründe oder missglückter Kommunikation. Er ist selbst ohne unmittelbare Beihilfe zur Tat durch andere Nazis kein Einzeltäter. Der Täter ist in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus Normalität sind und in einem Umfeld, in dem diese auch in ideologischer Form gutgeheißen und gefördert werden. Auch das Nicht-Wahrnehmen, Nicht-Benennen und Kleinreden der alltäglichen Gewalt und der strukturellen Diskriminierung, denen marginalisierte Gruppen ausgesetzt sind, ist Teil eben dieser Strukturen. Es sind diese Strukturen, diese Normalität, die es Täter:innen ermöglichen, ihre menschenverachtenden Ansichten überhaupt erst auszubilden und sich in der Folge zu radikalisieren. Der Verurteilte ist kein Einzeltäter, denn tagtäglich begehen viele Andere rassistische, antisemitische und frauenverachtende Taten. Tagtäglich verbreiten viele Andere ihre menschenverachtenden Meinungen und ihre Hetze auf der Straße, in Kneipen, in Parlamenten und im Internet. Tagtäglich decken Familienmitglieder, Freund:innen, Kolleg:innen diese Ansichten oder befeuern sie sogar noch. Tagtäglich stiften sich Menschen damit gegenseitig zur Diskriminierung, zu Gewalt, zum Mord an. Kein:e rechte:r Täter:in ist ein:e Einzeltäter:in oder Ergebnis gescheiterter Erziehung, denn sie alle sind Ergebnis einer von struktureller Ungleichheit durchzogenen Gesellschaft.
Insofern ist unverständlich, dass linken Prozessbegleiter:innen teils der Vorwurf gemacht wurde, der Prozess würde durch Linke instrumentalisiert werden. Wenn Linke fordern, dass die Tat in einen gesellschaftlichen Kontext eingeordnet werden muss, dann fordern sie lediglich, eine politisch motivierte Tat nicht zu entpolitisieren und die rassistischen Tatmotive anzuerkennen.
Unsere Antwort: Erziehung gegen Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus
Die Nicht-Benennung der Täter-Ideologie, die Vorwürfe gegen Linke und die Individualisierung des Täters sind allesamt Taktiken, sich nicht als Gesellschaft mit Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus auseinandersetzen zu müssen. Unsere Antwort darauf ist, dies umso nachdrücklicher einzufordern und selbst zu tun!
Wir fordern deshalb weiterhin, dass die Anschläge auf İsmet Tekin und Aftax I. als rassistisch motivierte Mordversuche anerkannt werden!
Der Prozess darf nicht das Ende der Beschäftigung mit dem Anschlag sein. Gerade jetzt müssen Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus sichtbar gemacht werden. Wir müssen laut sein und der Gesellschaft immer wieder ihre menschenverachtenden Ideologien und Strukturen vorhalten. Wir müssen menschenverachtende Gewalt, Aussagen und Ansichten benennen und nicht locker lassen, bis sie als solche anerkannt werden. Wir dürfen nicht aufhören, solidarisch mit Betroffenen rechter Gewalt zu handeln und sie, wo es geht, zu unterstützen. Nur so können wir gemeinsam eine bessere Welt ermöglichen.
Im Laufe des Prozesses wurde irgendwann sinngemäß gefragt, wie wir es schaffen könnten, dass unsere Kinder nicht zu Täter:innen werden. Für uns als Sozialistische Jugend – Die Falken ist die Antwort darauf klar: Erziehung hin zu einer befreiten Gesellschaft. Diese Erziehung muss sich klar gegen Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus sowie andere menschenverachtende Ideologien richten. Erziehung ist dabei nichts, was ausschließlich Eltern und Lehrkräften überlassen bleibt, sondern überall dort passiert, wo Menschen lernen, sich zueinander und zur Gesellschaft zu positionieren. Eine Erziehung gegen den unerträglichen Zustand, in dem sich unsere Gesellschaft befindet, muss immer heißen: Erziehung im und durch das solidarische Kollektiv. Das heißt: Wir dürfen nicht der Kleinfamilie und auch nicht den staatlichen Bildungsinstitutionen das Feld überlassen, sondern müssen uns als gesamte Zivilgesellschaft klar gegen rechte Ideologien positionieren!
Wir fordern die strukturelle Verankerung und Förderung von Bildungsangeboten und Erziehung, die jungen Menschen ein antifaschistisches, demokratisches Weltbild und Selbstverständnis ermöglicht!
Dieser Artikel ist zuerst am 23.12.2020 beim Transit-Magazin erschienen.