Utøya, München, Halle... Zusammenhänge rechten Terrors benennen!

Wir sind heute hier um an den Anschlag von Oslo und Utoya zu erinnern, der insgesamt 77 Menschen das Leben gekostet hat. Damit ist er einer der rechtsterroristischen Anschläge mit den meisten Todesopfern in Europa seit 1945. Doch wenn wir unseren Freund*innen, Bekannten und zum Teil auch Genoss*innen erzählen, dass wir an Utoya erinnern wollen, blicken wir meist in verständnislose Gesichter. Der Name des Ortes ist kaum jemandem ein Begriff. Stattdessen ist es der Name des Täters. Wir wollen dem Täter keine Bühne bieten, die hat er schon zu genüge bekommen. Es erschreckt uns zutiefst, dass sein Name und nicht der des Ortes oder der Opfer zum Symbol dieser Tat wurden. Um dies zu ändern und um an unsere Genoss*innen, die am 22. Juli 2011 auf Utoya gestorben sind, zu erinnern, haben wir diese Kundgebung organisiert. Doch der Anschlag auf Utoya war, wie wir in Halle schmerzlich erfahren mussten, nicht der einzige rechte Anschlag der letzten Zeit. Und so stehen wir heute hier, um die Kontinuitäten zwischen Utoya 2011 und München 2016 in einer Stadt zu verdeutlichen, in der 2019 ebenfalls zwei Menschen von einem antisemitischen, rassistischen und antifeministischen rechten Täter ermordet wurden.

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Wir Falken sind eine sozialistische Jugendorganisation, die - ähnlich wie unsere Genoss*innen in Norwegen - jeden Sommer mit Kindern und Jugendlichen in Zeltlager fährt. Dies machen wir, weil wir davon überzeugt sind, dass wir nur durch diese Arbeit der befreiten Gesellschaft ein Stück näher kommen können. Unsere Zeltlager sind ein Raum zum ausprobieren neuer Weisen uns aufeinander zu beziehen. Sie versuchen immer auch ein Schutzraum zu sein. Aus diesem Grund trifft es uns besonders, dass bei dem Anschlag auf Utoya ein genau solcher vermeindlicher Schutzraum unserer Schwesterorganisation AUF zum Ziel wurde. Die Opfer des Anschlags waren eben solche Jugendliche, für die auch wir Jahr für Jahr Verantwortung übernehmen, mit denen wir Spaß haben und gemeinsam versuchen, unsere Welt zumindest für ein paar Wochen zu einem angenehmeren Ort außerhalb der ganzen Scheiße zu machen. Dass die Opfer des Anschlags so wenig Bekanntheit haben, der Täter aber schon, macht uns wütend. Lasst uns das gemeinsam ändern! ALERTA!

Die Frage, warum linke Jugendliche zum Ziel wurden, ist für die Aufarbeitung des Geschehenen zentral. Die Jugendlichen der AUF wurden nicht zufällig vom Attentäter ausgewählt. Ebenso wenig werden andere linke Jugendliche von rechten Täter*innen zufällig ausgewählt. Die Vernichtung der nächsten Generation norwegischer Sozialdemokrat*innen war das erklärte Ziel. Den jungen Menschen wurde zugeschrieben bereits politische Führungsrollen zu übernehmen. Deswegen wurden sie in dem menschenverachtenden Weltbild des Täters zu “legitimen” Opfern. Allein durch ihre Aktivität und Teilnahme im Sommercamp wurden sie zu angeblichen Verantwortungsträger*innen der vermeintlichen “Islamisierung”, “Massenmigration” und “dem großen Austausch”.

Für uns Falken hatte das Attentat in Oslo und Utoya 2011 eine unmittelbare Auswirkung auf unsere Arbeit: Es fand während oder kurz vor unseren eigenen Zeltlagern statt. Wir mussten einen Umgang damit finden, dass wir nicht wussten, ob es weitere Anschläge auf Zeltlager geben wird oder ob der Anschlag eventuell Teil einer koordinierten rechtsradikalen Anschlagsreihe ist. Wir mussten mit der Angst unserer teilnehmenden Kinder und Jugendlichen sowie den vielen Anrufen verängstigter Eltern umgehen, sie gleichzeitig beruhigen und die Schwere der Tat und die tatsächliche Bedrohungssituation nicht leugnen. Wir haben versucht, unsere pädagogische Arbeit aufrechtzuerhalten und angemessene Schutzkonzepte zu schaffen, während wir selbst Angst hatten, wütend waren und um unsere Genoss*innen trauerten. Sofern wir noch nicht im Zeltlager waren, wurde überlegt, ob diese überhaupt stattfinden können und sollten. Insofern hat dieser Anschlag nicht nur die tatsächlichen Opfer getroffen, sondern europa- und weltweit linke Kinder- und Jugendverbände in Angst versetzt. Es stellte sich die Frage, ob und wie unsere Arbeit weiterlaufen kann.

Auch der Anschlag in München 2016 fand am Anreisetag eines großen internationalen Zeltlagers in Franken mit 2500 Teilnehmer*innen statt. Obwohl wir dort bereits im Vorhinein - auch aus Angst einer Widerholung von Utoya - ein umfassendes Schutzkonzept erarbeitet hatten, versetzte diese Situation viele Teilnehmer*innen in Angst. So führte der Anschlag z.B. dazu, dass unsere israelischen Genoss*innen wegen Sicherheitsbedenken daran zweifelten, ob sie zum Zeltlager kommen sollten. Wir Falken werden immer wieder auch direkt Ziel rechter Angriffe: Wenn unsere Zeltlager von rechten Schlägertrupps angegriffen werden, unsere Büros und Gruppenräume beschmiert und ihre Scheiben eingeworfen oder sie Ziel von Brandanschlägen werden, wenn wir als Sozialist*innen auf der Straße angegriffen und von Nazis zusammengeschlagen werden, dann ist das alltäglicher rechter Terror, der immer auch zum Ziel hat, uns einzuschüchtern, uns an unserer Arbeit zu hindern und daran zu erinnern, dass Utoya sich jederzeit wiederholen könnte. Zu unserer praktischen Arbeit gehört seit einigen Jahren also auch der Selbstschutz. Dazu zählen Schutzkonzepte für unsere Veranstaltungen. Aber auch antifaschistische Recherchearbeit ist dafür unerlässlich.

Während die Anschläge der letzten Jahre insbesondere migrantisierte und jüdische Menschen trafen, waren auch immer wieder linke Personen Ziel und Opfer rechter Gewalt. In der Ideologie der rechten Täter*innen verknüpfen sich Antisemitismus und Rassismus mit antilinker Ideologie. Sie konstruieren sich eine “Jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung” und sprechen von “Kulturmarxismus”. Linke werden so nicht bloß zum Ziel, weil sie politische Gegner*innen sind, sondern auch, weil sie in dem verschwörungsideologischen Weltbild der Täter*innen eine aktive Rolle im sogenannten “Großen Austausch” spielen. Utoya ist dafür ein besonders erschreckendes Beispiel. Darüber hinaus werden linke Jugendliche, insbesondere Punks, immer wieder Ziel rechter Angriffe, wenn sich antilinke Ideologie und sozialdarwinistische Ideen vermischen. So wurden seit 1990 allein in Sachsen-Anhalt mindestens zwei junge Punks von Nazis ermordet. Torsten Lamprecht und Frank Böttcher.

Es wird einmal mehr deutlich, dass die Ideologien rechter Täter*innen nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Dass sich dieser Redebeitrag insbesondere um Linke als Ziele rechter Gewalt dreht, soll nicht darüber hinweg täuschen, dass Jüd*innen, BIPoCs und migrantisierte Personen in dieser Gesellschaft alltäglich mit Rassismus und Antisemitismus zu kämpfen haben. Sie sind es, die immer wieder von rechten Täter*innen bedroht und angegriffen werden. In der Solidarität mit Ihnen ist es für weiße Linke jedoch nicht förderlich, sich gänzlich außerhalb der Bedrohung durch rechte Gewalt zu sehen. Die Ermordung von Torsten Lamprecht und Frank Böttcher, der Anschlag auf Utoya und auch das Manifest des Attentäters von Halle, in dem explizit auch linke Zentren als mögliche Anschlagsziele genannt wurden, machen deutlich, dass der Kampf gegen rechte Gewalt nur gemeinsam geführt werden kann.

Unsere Antwort auf rechte Gewalt und rechte Anschläge heißt Solidarität. Diese Solidarität sollte nicht auf einer ideellen oder instrumentellen Ebene bleiben. Sie sollte also nicht bloß von außen und punktuell an Opfer und Betroffene gerichtet werden. Sie ist auch nicht als Mittel zum Zweck zu verstehen. Denn solange die Gesellschaft auf Konkurrenz und Ausgrenzung beruht, reproduzieren sich Rassismus und Antisemitismus fortlaufend. Stattdessen müssen wir gemeinsam daran arbeiten, die Gesellschaft so zu verändern, dass die Menschen die Möglichkeit bekommen solidarisch miteinander zu leben und zu handeln. Denn erst dies ist Grundvorraussetzung dafür, menschenverachtende Ideologien wie Rassismus und Antisemitismus tatsächlich überwinden zu können. Solidarische Praxis darf sich dabei auch nicht darauf beschränken, gegen offensichtliche Nazis zu kämpfen. Wir müssen auch immer wieder den Antisemitismus und Rassismus staatlicher Akteure kritisieren. Wir dürfen das Übersehen, das Herunterspielen, das Verschleiern, Mitwirken und Unterstützen rechter Gewalt nicht unwidersprochen lassen. Also lasst uns unbequem und kritisch bleiben!

Erinnern heißt kämpfen!

Freundschaft!


Die Kundgebung haben wir zusammen mit der Initiative 09. Oktober am 22. Juli 2021 am Steintor in Halle veranstaltet.

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